1. Mai 2020

Die Mama sieht nur eine Maske mit Augen

Presseartikel "Saarbrücker Zeitung, vom FREITAG 01. MAI 2020"

Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen bereiten Experten vom Demenzverein Neunkirchen und der Landesfachstelle Sorgen. Das Virus trifft die Qualität der Versorgung mit voller Wucht.

Von Claudia Emmerich Lokalredaktion Neunkirchen

Fürs Versorgen demenzkranker Menschen ist die Corona-Pandemie der „Supergau“. Da sind sich Volker Schwarz und Petra Nix vom Demenzverein Neunkirchen (siehe „Info“) und Andreas Sauder von der Landesfachstelle Demenz einig. Im Gespräch mit unserer Zeitung schildern sie, was es für Betroffene, ihre Familien, aber auch die ambulanten und stationären Einrichtungen, die sozialen Dienstleister insgesamt bedeutet, wenn Kontaktsperren gelten, Distanz einzuhalten ist, Schutz- und Hygienebestimmungen greifen, Entlastungsangebote wegfallen. Menschlicher Schmerz, wirtschaftliche Zwänge. Die Anti-Corona-Maßnahmen, so die Expertenrunde, treffen die „Qualität der Versorgung“ mit voller Wucht.

Petra Nix, die beim Demenzverein als gerontopsychiatrische Pflegekraft spezielle Beratung anbietet, hört in Gesprächen aktuell viel Verzweiflung heraus. „Eine Tochter hat mich angerufen. Die Eltern werden versorgt von einer ausländischen Pflegekraft. Die ist zurück nach Polen. Sie weiß nicht weiter“, schildert Nix. In einem anderen Fall hat die Tochter den Vater in der Tagespflege. Die Einrichtung ist zu. Und jetzt? In einem weiteren Fall hat der Ehemann seine Frau aus dem Heim nach Hause geholt, weil sie dort Essen und Trinken verweigerte. Aber jetzt zu Hause das dringend erforderliche Hilfenetz knüpfen, gestaltet sich noch schwieriger als sowieso schon in nicht Corona-Zeiten.  

23000 Demenzkranke gibt es im Saarland, drei Viertel werden zu Hause gepflegt. Diese Zahlen nennt Sauder und formuliert die Forderung: „Wir brauchen eine Notbetreuung.“ Wie man sie auch für Kinder einrichte. Sie hörten „katastrophale Rückmeldungen“, wenn etwa Tagespflegeeinrichtungen geschlossen seien: „Oft ist dann die Versorgung zu Hause nicht gesichert.“  

Definiert ist Demenz (lat. Dementia, „ohne Geist“) durch einen Abbau geistiger Funktionen, der dazu führt, dass Alltagskompetenzen mit der Zeit verloren gehen. Da braucht es einen besonderen Umgang, andere Formen von Kommunikation. Wie soll man einem Demenzkranken Schutzmaßnahmen wie Kleidung und Masken erklären?, fragt Nix. „Sie können das kognitiv nicht begreifen.“ Demenzkranke brauchen Nähe, körperliche Zuwendung. Schutzkleidung und Masken bauen da Barrieren auf: „Sie sehen nur Masken mit Augen.“ Aber sie sehen keine Mimik, die ihnen verstehen helfen kann. Und übers Tablet mit den Angehörigen sprechen, die nicht zu Besuch kommen dürfen? „Du gibst das Tablet der Mama, die legt es zur Seite“, sagt Nix. „Sie erkennt den Mann, die Tochter, den Sohn nicht. Sie braucht dazu auch andere Reize als das Bild.“

Die Leitungen der Pflegeheime seien ebenfalls in einer schwierigen Situation, alle Aufgaben zu meistern, sagen die Experten. Ebenso die Mitarbeiter. Der zwischenzeitliche Aufnahmestopp sei jedenfalls nicht durchzuhalten. Wer reinkommt, müsse getestet werden, dann auch 14 Tage in Quarantäne. Die nächste Herausforderung.

Gerade wenn die kranken Menschen getrieben und unruhig seien, was zum Krankheitsbild gehöre, steige die Belastung für die sorgenden Angehörigen im häuslichen Umfeld, führt Nix aus. Die drei Stunden in der Tagespflege beispielsweise sind dann die Zeit, in der der Sorgende sich erholen kann. Wenn nun dieses Angebot wegbricht, wo bleibt dann noch Erholungszeit? Die Lage spitzt sich zu. Zumal auch unterstützende mobile Helfer und meist weibliche Ehrenamtliche oft selbst wegen ihres Alters in die Risikogruppe gehören. Die Familien zögerten aber auch, sagt Schwarz, jemanden in die Wohnung zu lassen. Ein Teufelskreis.

Wenn Kinder oder Ehepartner merken, da stimmt was nicht mit dem Vater, der Mutter, dem Ehepartner, sei schnelle und sichere Diagnosestellung und schnelle und gute medikamentöse Einstellung wichtig, erinnert Sauder. Und beides sei derzeit erschwert. Erstmal muss man einen Termin beim Hausarzt und Neurologen bekommen. Zum anderen nehmen Familien aus Angst vor Ansteckung Termine nicht wahr. Mit Konsequenzen für den Menschen am Anfang einer Demenz.

Zudem liegt der Bereich der Aus- und Fortbildung brach, stellt die Runde weiter fest: Kurse und Veranstaltungen fallen aus. Auch das hat perspektivisch Auswirkungen auf die Versorgungslage.

 

Info:
Individuelle Hilfe und Beratung

Der Demenzverein im Landkreis Neunkirchen wurde 2003 gegründet. Er beschreibt seine Aufgaben so: individuelle Demenzberatung, Einzelfallhilfe und Begleiten von Demenzkranken und deren Angehörigen, Aufbau und Unterstützung von Selbsthilfegruppen, Informationsveranstaltungen, Fortbildungsveranstaltungen, Öffentlichkeitsarbeit, Teil des regionalen Netzwerkes Demenz im Landkreis Neunkirchen.

Das Büro der Geschäftsstelle ist zwar aktuell für den Publikumsverkehr geschlossen. Die Geschäftsstelle ist dennoch täglich von 9 bis 15 Uhr erreichbar Kontakt: Telefon (06824) 906-2154, E-Mail demenzverein@landkreis-neunkirchen.de

Bei der Kommunikation mit dementen Menschen können Masken und Schutzkleidung zur Barriere werden. Im Landkreis Neunkirchen sind rund 3000 Menschen an Demenz erkrankt. Foto: dpa/Benoit Doppagne